Ich will auf mein Tagebuch weinen dürfen

Neulich habe ich in meinem Tagebuch geblättert und ein wenig gelesen, was ich in den letzten Monaten so notiert habe. Und ich bin ein wenig erschrocken, weil mir das alles so schwer vorkam: Kummer. Trübe Gedanken. Selbsthass. Freudlosigkeit.

Mein erster Gedanke war: Ach du Schreck, ist mein Leben wirklich so furchtbar?

Mein zweiter Gedanke: Nein, keine Sorge, so schlimm ist es nicht.

Und dennoch, der Zweifel blieb. Mache ich vielleicht etwas grundlegend falsch? Sollte ich nicht besser meinen Blick auf das richten, was gut und schön in meinem Leben ist? Müsste ich nicht viel mehr darüber schreiben, was mir Angenehmes und Wunderbares passiert ist?

Das war der Moment, wo ich dann zum zweiten Mal so richtig erschrocken bin. Und zwar nicht über die finsteren Gedanken in meinem Tagebuch – sondern über diese vielen „Sollte-ich-nicht-müsste-ich-nicht“s in meinem Kopf. Ist nicht gerade ein Tagebuch eine Soll-freie-Zone? Etwas Persönliches und Unantastbares, das niemanden etwas angeht? Etwas, was keinen Bestimmungen unterliegt?

Als ich so drüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich Tagebuch schreibe, seit ich neun (!) Jahre alt bin. Und dass es mir noch nie zuvor in den Sinn gekommen ist, mich selbst zu maßregeln, über was ich dort schreibe. Und wie. Ich habe es  einfach getan. Erst in ein kleines, quadratisches Büchlein mit Schloss an der Seite. Später in Kladden und Hefte. Und es ging mir damit – immer gut.

Was da plötzlich in meinem Kopf aufploppte, war wohl ein Echo dessen, was in Blogs und Magazinen allgegenwärtig ist. Verbanne die negativen Gedanken, richte deinen Blick auf das Positive! Ein schlichtes Tagebuch reicht nicht zum Zufriedensein, nein, da geht noch mehr! Notiere jeden Tag drei Glücksmomente, zehn Dinge, die dich inspirieren, deine 20 besten Eigenschaften und deine 111 Magical Moments des Tages!

Das, liebe Leute, ist Glücksterror: Die Erwartung, permanente Glückseligkeit empfinden zu müssen. Die Rechnung geht aber nicht auf. Schon gar nicht beim Tagebuchschreiben.

Bei mir zumindest ist es genau andersherum. Ich habe meistens genau DANN das Bedürfnis Tagebuch zu schreiben, wenn ich eben NICHT so superduper drauf bin. Es liegt daher auf der Hand, dass 80 Prozent meines Tagebuchs einfach nicht sexy zu lesen sind. Es gibt sogar Seiten mit Tränenspuren (ein No-Go im Glückstagebuch!). Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich ein entsetzliches Leben habe. Nein, mein Tagebuch bekommt einfach nur die nicht so lichten Momente meines Lebens ab – und auch die brauchen eben ihren Raum.

Genau das ist auch das, was für mich das Tagebuchschreiben ausmacht. Einen Raum zu haben, an dem ich aussprechen darf, was ich wirklich wirklich denke und fühle. Wo ich nicht mit einem Witz über mein eigenes Elend hinwegwischen muss, sondern im Trübsinn verweilen darf. Im Wissen darum, dass das Leben eben nicht nur eine Aneinanderreihung von glücklichen, magischen und beflügelnden Momenten ist – sondern manchmal auch ganz schön ätzend.

Mein Tagebuch hört mir dabei zu, wie ein guter Freund. Es hört sich alles an, meine Litaneien, meine Unzufriedenheit, meine Fragen, Ängste und Zweifel. Und wie ein guter Freund, tut es: nichts. Es gibt keine Ratschläge, es gibt keine Verbesserungsanweisungen. Es versucht auch nicht mich auf andere Gedanken zu bringen oder mich glücklich zu machen. Es ist einfach nur da.

Und genau das ist die Aufgabe eines Tagebuchs.

Und ihr? Wie geht es euch mit dem Tagebuchschreiben? Führt ihr Glücks- und Magical-Moments-Tagebücher? Oder pfeift ihr auf all das?

Foto: cc Matthias Ripp (flickr.com)

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