Pierre Jarawan

„Keine Zahl kann dich so berühren wie eine Geschichte“ – Interview mit Pierre Jarawan

Es gibt Stimmen in der Poetry Slam-Szene, bei denen man unwillkürlich aufhorcht, weil man spürt: Da hat jemand was zu sagen. Pierre Jarawan aus München hat so eine Stimme.

Ich liebe seine Texte, weil sie sonderbar witzig und sonderbar weise sind – eine herrliche Mischung!

Dass so jemand in der Lage ist, einen soliden Debütroman hinzulegen, war mir klar. Aber Am Ende bleiben die Zedern ist mehr als das – eine berührende Geschichte über die Suche nach dem eigenen Vater und ein literarisches Porträt des Libanon, jenem Land, in dem Pierre Jarawan biographische Wurzeln hat.

Grund genug für mich, Pierre ein paar Fragen zu stellen und die Welt wissen zu lassen, dass dieses Buch lesenswert ist.

 

Pierre, dein Protagonist heißt Samir, seine Eltern sind in den 70ern aus dem Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland gekommen. Jetzt, mit Ende Zwanzig und reist er zum ersten Mal in den Libanon. Was genau sucht er dort?

Samir sucht im Libanon die Wahrheit über das Verschwinden seines Vaters, der die Familie verlassen hat, als Samir acht Jahre alt war. Die Frage, was damals passiert ist, und ob der Vater sich möglicherweise sogar im Libanon aufhält, treibt ihn seitdem um.

Er trifft allerdings auf ein Land, das sich von seinen Vorstellungen sehr stark unterscheidet: Der Libanon ist gesellschaftlich und politisch tief gespalten, und trägt noch immer Narben des Bürgerkriegs. Je tiefer Samir in die Vergangenheit seines Vaters eindringt, desto tiefer dringt er automatisch in die Geschichte des Landes ein, die gewissermaßen zu einem Spiegel der Geschichte seiner Familie wird.

Dein Vater stammt aus dem Libanon, du bist in Deutschland aufgewachsen. Welche Erfahrungen verbinden Samir und dich?

Samir ist, wie ich, ein Vertreter der 2. Einwanderergeneration, die wir in Deutschland haben, und in vielerlei Hinsicht kämpft er mit all den Schwierigkeiten, die viele Angehörige dieser Generation empfinden: Das Aufwachsen zwischen zwei Stühlen, begleitet von den Geschichten der Eltern an die alte Heimat, die die Kinder höchstens durch Urlaube kennen.

Allerdings hat Samir mit der Integration in Deutschland deutlich größere Schwierigkeiten, als ich sie hatte. Ich war in dieser Hinsicht privilegiert, meine Mutter ist Deutsche.

Wann hattest du das erste Mal das Gefühl, dass aus deiner Idee tatsächlich ein Roman werden könnte?

Ich kann das nicht mit einem bestimmten Zeitpunkt verknüpfen. Ich wusste: Das ist was Größeres, auch, weil es unmöglich ist, über den Libanon zu schreiben, ohne über Politik und die Geschichte des Nahen Ostens zu schreiben. Alles ist miteinander verwoben, das hat es reizvoll gemacht.

Gab es bei deiner Arbeit an diesem Buch je den Moment, an dem du alles hinwerfen und das Projekt einstampfen wolltest?

Nein. Beim Schreiben denkst du noch nicht daran, ob das Buch je veröffentlicht werden wird. Du willst eine Geschichte erzählen, und das steht über allem. Ich hatte für mich nie Zweifel, dass ich das Buch nicht beenden kann, weil ich die Geschichte, die Figuren, als so nah und drängend empfunden habe, dass der Schreibprozess an sich einen großen Sog entwickelt hat.

Was hast du auf deiner Recherchereise im Libanon erlebt und inwiefern hat sie dich beim Schreiben weitergebracht?

Ich kannte das Land natürlich schon vorher gut, ich war oft dort. Aber mit dem Wissen um die Geschichte hinzufahren, hat den Blick geschärft und verändert. Es ist ein bewussteres Sehen und Wahrnehmen, wenn man weiß, dass man gerade durch eine Szene aus einem Roman läuft. Natürlich war auch das Sprechen mit Leuten wichtig, schließlich sind das die Stimmen der Figuren im Buch, und je authentischer sie klingen, desto besser für die Geschichte.

Orientalische Erzählkunst scheint dir in die Wiege gelegt zu sein – hast du dich damit auch ganz bewusst beschäftigt?

Das ein schönes Kompliment, danke!

Für Am Ende bleiben die Zedern habe ich natürlich viel überlegt, welchen Ton das Buch braucht, welche Sprache. Samir sieht sich ja ganz in der Tradition orientalischer Erzähler, weil er sich an seinen Vater als Erzähler erinnert. Darum war es klar, dass er für seine Geschichte auch eine blumige, bildreiche und manchmal märchenhafte Sprache verwendet. Hätte ich einen deutschen Bauarbeiter als Hauptfigur gehabt, hätte ich mir was anderes überlegen müssen 😉

Was liebst du am Geschichtenerzählen?

Geschichten haben die Fähigkeit, Menschen sehr tief zu bewegen.

Ich kann dir Zahlen und Fakten auflisten, dir sagen, wie viele Menschen im Mittelmeer ertrunken sind oder wie viele Menschen weltweit auf der Flucht sind. Aber keine dieser Zahlen wird dich so berühren und vielleicht dein Denken verändern, wie wenn ich es dir als Geschichte erzähle.

Danke dir, Pierre!

Foto: Marvin Ruppert

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