
Schreiben und Sterben
In den letzten Wochen war ich gebannt von einem Buch: Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf.
Das Buch ist eigentlich ein Blog (hier zu finden). Entstanden ist es unter denkwürdigen Umständen: Herrndorf ist 45, als bei ihm ein Glioblastom, ein bösartiger Gehirntumor entdeckt wird. Seine Ärzte machen ihm nicht viel Hoffnung, sechs Monate noch, vielleicht zwölf, mit sehr viel Glück vielleicht sogar mehr. Dann: Ende Gelände.
Herrndorf muss gar nicht lang überlegen, er weiß, was er auf den letzten Metern tun will. Er setzt sich an seinen Schreibtisch und schreibt.
Bis dato hat Herrndorf einen Roman und einen Erzählband veröffentlich, unzählige weitere Plot-Ideen liegen bei ihm rum: Notizen, Kapitelentwürfe, unzusammenhängende Fragmente. Jetzt bringt er sie in Form.
Wie ein Besessener (und das ist nicht nur metaphorisch gemeint, tatsächlich hat Herrndorf manische Schübe) arbeitet er sich durchs Material, ergänzt, schreibt um, schreibt neu. In seinem Blog notiert Herrndorf am 13. März 2010: „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)“. Im selben Jahr noch vollendet er Tschick, ein Jahr später erscheint Sand. Sein drittes Projekt „Isa“ bleibt unvollendet.
Wieso schreiben? Warum nicht statt dessen eine Weltreise machen? Warum nicht feiern, koksen und das Leben genießen? Warum entscheidet sich jemand, der nicht mehr lange zu leben hat, ausgerechnet fürs Schreiben?
Für Herrndorf steht fest: Wenn er schreibt, geht es ihm besser. Die Arbeit gibt ihm Struktur und Halt. Außerdem will er vollenden, was er angefangen hat, der Nachwelt im Gedächtnis bleiben. Und er möchte selbst entscheiden, wie das aussieht. Einige Monate vor seinem Tod editiert er mit seinem Lektor sein Blog, das posthum in Buchform erscheinen soll.
„Arbeit und Struktur“ ist keine leichte Lektüre, denn Herrendorf erspart dem Leser nichts. Er beobachtet sehr genau was, was mit ihm und seinem Körper passiert: epileptischen Anfälle, Angstzustände, plötzliche Orientierungslosigkeit in vertrauten Vierteln, motorische Probleme beim Binden den Schnürsenkel, Wahnvorstellungen. Er dokumentiert, was in seinem Umfeld geschieht, die mediale Diskussion um die aktive Sterbehilfe beispielsweise – und seinen eigenen Entschluss, sich zu erschießen, bevor sämtliche Körperfunktionen versagen.
Wie es aber so ist, mit Büchern über den Tod, sie sind immer auch Bücher über das Leben. Und Herrndorf bewahrt sich so lange er kann, seine Freude daran: Am Schwimmen im eiskalten Plötzensee im März, am Fußballspielen mit Freunden. An seiner Fähigkeit, jedem noch so kleinen, unscheinbaren Moment sprachliche Schönheit und ironischen Witz abzuringen. Als Benedikt XVI. im Februar 2013 zurücktritt, notiert er: „Papst zurückgetreten, Namen vergessen.“
Herrndorf führt bis zuletzt vor: Wer schreibt, entscheidet sich, die Dinge aus einer bestimmten Perspektive zu sehen. Und bleibt damit der Mensch, der er sein will.
Wenn du meinen Beitrag kommentierst, werden deine Daten nur im Rahmen deines Kommentars gespeichert und nicht an Dritte weitergegeben. Es gilt meine Datenschutzerklärung.