
Soll ich das mit dem Schreiben lieber lassen?
Neulich erzählte mir ein Freund, dass er gerne einen Roman schreiben würde. Nicht irgendeinen, nein, eigentlich eher DAS Ding des Jahrhunderts. Er bat mich, einen ersten Entwurf zu lesen, den er geschrieben hatte. Er sagte: „Weißt du, ich würde wirklich gerne wissen, ob das was taugt. Oder ob ich das mit dem Schreiben lieber lassen sollte.“
What the f***! Ich war ein wenig sprachlos.
Ich meine, ich – ausgerechnet ich! – sollte ihm sagen, ob er Talent hatte. Ich sollte aufgrund einiger weniger Seiten einschätzen, ob es sich für ihn lohnte, weiterzuschreiben, ob er tatsächlich in fünf, zehn oder dreißig Jahren ein berühmter Schriftsteller sein würde. Oder eben nicht.
Eine interessante Idee, oder? Dass man einfach jemand fragen kann: „Meinst du, ich habe Talent zum Schreiben?“ und derjenige macht dann den Daumen hoch oder runter – und man weiß, woran man ist.
Tatsächlich ist die Sache mit den Talenten sehr viel komplizierter. Und zwar deshalb, weil wir dazu tendieren unsere Talente vor uns selbst zu verstecken. Oft wissen wir gar nicht so genau, was wir eigentlich richtig gut können. Es ist, als trüge jeder Mensch eine kleine Schatzkiste mit sich herum – und nur die wenigsten wissen, was eigentlich darin ist.
Bei mir war die Sache mit dem Talent lange Zeit ein großes Problem. Und zwar deshalb, weil es mir unangenehm war, nicht „normal“ zu sein. In der Schule fiel ich auf, wenn ich auf Fragen Antworten wusste, die sonst keiner geben konnte. Zuhause fiel ich auf, weil ich mich nachmittags an meinem Schreibtisch setzte und heimlich Gedichte und Geschichten schrieb, statt das zu tun, was andere Teenagermädchen so tun (stundenlang über Frisuren reden, shoppen, heimlich rauchen – ihr kennt die Klischees!). Mir war das alles zutiefst peinlich.
Ich habe viele Strategien entwickelt, um mein Talent klein zu halten, unsichtbar zu machen. Im Grunde habe ich mein großes, wildes und kreatives Herz permanent beschnitten. Um nicht aufzufallen. Um keine Probleme zu machen. Um niemand zu zeigen, was für (in meiner Vorstellung „absurde“ und „ungehörige“) Gedanken und Gefühle in mir schlummern.
Meinen Talenten dann doch entgegen zu treten, war eine lange Reise. Ich habe gesucht, geforscht, viel ausprobiert und experimentiert. Und habe noch nicht das Gefühl, wirklich am Ende angekommen zu sein. Gott sei Dank! (Mein „Plädoyer fürs Ausprobieren“ kannst du hier nachlesen.)
Geholfen haben mir bei meiner Suche Menschen, die mich ein Stück weit auf der Reise begeleitet haben. Schauspieler, Künstler, Musiker, Schriftsteller, Sänger – professionelle Schatzkistenöffner, wenn man so will. Menschen, die ihr eigenes Talent kannten und es selbstverständlich nutzten. Leute, die wussten, wieviel Kraft es ihnen gibt, wenn sie genau das tun, was sie wirklich gut können. Und die mich ermutigten neugierig zu bleiben für meine Möglichkeiten.
Ich denke: Jeder muss die Reise zum eigenen Talent selbst antreten. Es gibt keine Abkürzung. Klar kannst du deine Schatzkiste anderen Leuten hinhalten und sie fragen, was sie darin sehen. Doch die wenigsten Leute sind gute Schatzsucher – sie sehen das, was sie sehen wollen oder das, was sie denken, das du erwartest, was sie sehen sollen.
Wenn du nicht selbst den Deckel deiner Schatzkiste öffnest, wer sonst sollte es tun? Wenn du nicht selbst dein Talent siehst, benennst und anerkennst, wer sonst könnte diesen Job wirklich gut für dich machen?
In diesem Sinne: Schreibt!
PS: Jenem Freund hab ich dann doch noch ein Feedback zu seinem Text gegeben und wir hatten ein ganz wunderbares Gespräch. Ob er weiterschreibt oder ob er den Stift für immer ruhen lässt, entscheidet – er selbst. Wer sonst könnte die Entscheidung treffen?
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