Was mir das autobiographische Schreiben bedeutet

Wenn ich auf der Bühne stehe, gibt es Texte, die besonders emotionale Reaktionen hervorrufen. Das sind diejenige, die bei meinen Zuhörern die Frage zurücklassen: War das jetzt autobiographisch? Ist das erfunden – oder hat sie das echt so erlebt?

Anfangs hat mich das irritiert.

Einmal kam nach einem Auftritt – ich hatte eine Ich-Erzählerin von ihrem ersten Mal erzählen lassen – eine junge Frau auf mich zu, die mich fragte, ob ich ihr den Text per Mail schicken könnte, er hätte ihr so wahnsinnig gut gefallen. Ich habe das glatt gemacht und es kam eine lange Mail zurück. Sie schrieb, bei ihr sei alles ganz genauso wie bei mir gewesen, das erste Mal im Auto und es lief Musik und das benutzte Kondom wurde in ein Taschentuch gepackt…

Ich war extrem peinlich berührt. Nicht nur, dass ich etwas Intimes aus dem Leben einer Unbekannten serviert bekam, nein, ich wollte mich nur zu gerne rechtfertigen und sagen: Aber das war doch gar nicht so! Wie kommst du darauf, das für real zu halten?

Damals war ich mir nicht bewusst, dass ich diese Reaktion provoziert hatte, dass es die einzig logische Reaktion auf so einen Text war. Weil ich die Grenze zwischen Fiktion und Realität punktgenau getroffen habe. Heute liebe ich es, diese Grenze bewusst zu suchen und damit zu spielen. Dementsprechend haben die meisten meiner Gedichte und Kurzgeschichten einen autobiographischen Kern, einige davon ganz offensichtlich, andere weniger.

Der Zwischenraum zwischen Realität und Fiktion hat mich immer schon in seinen Bann gezogen, warum, kann ich gar nicht so genau sagen. Aber die meisten Romane dieser Welt lassen mich kalt, mich interessieren Geschichten um ihrer selbst Willen wenig. Meine Antennen waren immer anderes gepolt: Wo erzählt hier jemand über sich? Und was erzählt er damit auch über mich? Wo, an welchem Punkt, treffen sich Realität und Fiktion?

Das ist vermutlich auch das Grund, warum ich Bühnen- und Slamliteratur mag, warum mich Songtexte so stark bewegen: Nirgendwo sonst gibt es so viel Alltagsbezug und so starke Ichs zu hören wie hier. Mindestens genauso gern mag ich literarische Texte mit autobiographischem Bezug: Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ (über seinen demenzkranken Vater), Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ (über seine Krebserkankung) und Hape Kerkelings „Der Junge muss an die frische Luft“ (über den Tod seiner Mutter).

Autobiographisches Schreiben, so sehe ich es, hat immer ein Ziel: Das vermeintlich Nicht-Erzählbare erzählbar zu machen. Und die Schrecknisse des Lebens in einen Zusammenhang zu stellen, so dass sie eingebettet sind, in etwas Größeres. Das bedeutetet nicht, dass man dafür gleich Krebs haben muss, auch der ganz normale Liebeskummer verliert seine Wucht, wenn man ihn in Ruhe von allen Seiten betrachtet.

Für mich sind diejenigen Texte am befriedigsten, in denen es mir gelungen ist, eine Antwort auf eine Frage zu finden. Eine Antwort auf etwas, was mich beschäftigt, ein Gefühl, ein Gedanke, ein Erlebnis. Und es freut mich ganz besonders, wenn es mir gelungen ist, einer schmerzhaften Situation einen Witz und damit auch meinem Pulikum ein Lächeln abgerungen zu haben.

Denn: Im autobiographischen Schreiben ist alles möglich. Und das ist die große Befreiung, die für mich darin liegt. Ich darf die Dinge drehen und wenden, wie es mir beliebt. Ich darf meine Möglichkeiten erkunden, auch die, die außerhalb meiner tatsächlichen Erfahrung liegen. Ich darf sogar über mein erstes Mal schreiben, obwohl es in Wirklichkeit ganz anders war.

In diesem Sinne: Schreibt!

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